Iwan A. Gontscharow, Die Schlucht



  • Naja, bin ich durch. Was für ein Brocken!


    Im Anhang (Ausgabe Zürich, Manesse, ¢1959):
    Lieber spät als nie. Kritische Bemerkungen (1879).
    (Daraus hab ich für das, was ich hier aufschreibe, einiges entnommen.)
    Ein Rückblick Gontscharows auf seine drei Romane, Erläuterungen zu seiner Auffassung von Literatur.


    Raiski, Gutsbesitzer, ex-Staatsangestellter, in den Künsten dillettierend, zieht sich nach einer missglückten Leidenschaft zu seiner Cousine Sophie auf sein Gut Malinowka (Himbeerdorf, so auf Seite 863) an der Wolga zurück. Zu seiner Großtante Tatjana Markowna und deren Großnichten Marfinka und Wjera. Die beiden, denen er in ihrem Kinderalter schon einmal begegenet war, sind inzwischen erwachsen, Zeit also, sich erneut zu verlieben.


    Ich hatte zuerst eine Gegenüberstellung St. Petersburg - Landleben erwartet, wie in der (später erschienenen) "Anna Karenina". Aber so ist es nicht. Denn nach Petersburg kehrt Raiski nicht zurück.


    Stattdessen beginnt, er, nachdem er sich vorher in der Malerei versucht hatte, einem Roman zu schreiben, und diesen seinem Leben anzuverwandeln. Oder, umgekehrt, seinen Versuch im Provinzleben zum Roman zu machen.


    Nachdem es ihm schon gründlich misslungen war, Cousine Sophie in seinem Sinne zu "bilden", gelingen ihm seine neuen Versuche - zuerst bei der "naiven" Marfinka, dann bei der gebildeten und geheimnisvollen Wjera - ebensowenig.


    Aber sich entlieben fällt fast ebenso leicht, wie sich zu verlieben, und ist Teil des Romans, den Raiski zu schreiben gedenkt.
    Diese Eskapaden schildert Gontscharow keineswegs ironiefrei. Was ihnen sehr gut bekommt.


    In seinen "Ideen" dilettiert Raiski genauso wie in den Künsten. Dort unfähig, seine Talente durch beharrliches Üben und Lernen auszubauen (Schultern und Hände missraten ihm immer), weiß er hier mit seinen reformatorischen Ansichten nicht viel anzufangen. Diese stehen konträr zu den überkommenen seiner Großtante. Die das herkömmliche Russland verkörpert.


    Um dies herum gruppieren sich andere Personen, von denen Mark Wolochow heraussticht, der "Nihilist", an dem Gontscharow, selbst "Reformer" der eher konservativen Richtung, vorführt, wie es nicht sein sollte. Die zu seiner Zeit virulenten Probleme, das der (1861 aufgehobenen) Leibeigenschaft zum Beispiel, werden anhand des Lebens auf dem Gut vorgeführt.


    Und bei alledem ständig im Hintergrund die geheimnisvolle "Schlucht", die zu tun hat mit Wjera und ihrer Liebe. Ein Geheimnis, hinter das ich beim Lesen eher gekommen bin, als der Autor es enthüllt.


    Das Petersburger Dasein seiner Schicht beschreibt Gontscharow, der es ja wissen musste, ganz witzig so (Seite 61):

    Zitat


    Den Staatsdienst hatte er [Raiski] wenige Jahre nach seinem Entritt wieder aufgegeben. Er hatte sich die Sache eine Zeitlang angesehen und war zu dem merkwürdigen Schlusse gelangt, daß der Dienst an sich kein Ziel, keine Lebensaufgabe sei, sondern lediglich eine Veranstaltung, die es ermöglichte, eine Anzahl von Menschen unterzubringen, deren Existenz sonst völlig zweck- und nutzlos gewesen wäre. Hätte diese Menschen nicht existiert, dann wäre auch der Dienst, den sie taten, völlig überflüssig gewesen.


    Aber auf dem Lande sieht es nicht anders aus. Der schlafende Gutsherr (beschrieben im "Oblomow"), Provinzadel, Ortsvorsteher, Bedienstete, leibeigene Bauern, alles stagniert.
    Die alles umfassende bedrückende Langeweile, Gontscharows Hauptthema.


    Raiski ist, anders als Oblomow, im Erwachen. Aber was er mit sich tun soll, weiß er nicht. Und so entlässt der Roman ihn Richtung Italien, zu weiteren künstlerischen Studien. So unentschlossen, wie er zum Beginn war.


    Raiski meint zu erkennen, dass die Schriftstellerei ihm ebenso wenig liege wie die Malerei, und dass die Bildhauerei seine eigentliche Berufung sei.

    Zitat


    "Wer will behaupten, dass ich nie zu diesen wenigen [den berühmten Bildhauern] gehören werde? Ich habe eine ungemein reiche Phantasie. Ihre Funken sind, wie Sie selbst [der Maler Kirillow, an der er schreibt] sagten, in meinen Portäts verstreut, sie leuchten sogar in meinen bescheidenen musikalischen Versuchen ... und wenn es mir nicht gelang, sie in einem Gedicht oder Roman, einem Drama oder einer Komödie zum Leuchten zu bringen, so lag das eben daran, daß ..."
    Er mußte niesen.
    Ich habe es beniest - also ist es wahr, daß ich Plastiker bin, nichts als Plastiker, dachte er.


    (Seite 1172.)


    Der Verfasser kommentiert, passend:

    Zitat


    In allen Arten der Kunst bildeten die Talente solcher Raiskis nicht Inhalt und Ziel des Lebens, sondern nur ein Mittel zu einem angenehmen Zeitvertreib.


    (Seite 1213)


    Gontscharow bescheinigt sich selbst vor allem "Fähigkeit zu zeichnen" (Seite 1193).


    Fraglos. Der Roman ist eine gelungene Abfolge von Bildern und Ereignissen, der in vielen einzelnen Szenen seine Stärken hat. Das bedrückende Gefühl der Stagnation aber wird nicht so intensiv dargestellt wie im "Oblomow". Die Haupt- und Nebenpersonen sind konsequent dargestellt, aber etwas zu sehr Ideenträger, und etwas zu wenig plastisch und wirklich berührend dargestellt, "warm" bin ich mit keiner davon so richtig geworden. Auch nicht mit der für mich besten des Romans, Wjera.


    Ich habe eine Geschlossenheit vermisst, die den Roman vielleicht etwas kürzer gehalten und ihn mehr auf die im Titel versprochene "Schlucht" konzentriert hätte. Die nicht, wie ich anfangs gedacht hatte, Abbild politischer Realitäten ist, an denen etwas zu ändern Ziel russischer Intellektueller jener Zeit war. Die Liebesgeschichte und das dahinter verborgene Geheimnis, nach den Maßstäben jener Zeit schockierend, kommen etwas zu kurz.


    Jede Person steht, ein wenig zu deutlich vielleicht, für einen Typ.
    Etwas zu viele "Ideen". Etwas zu wenig:
    Roman.


    Am besten gefielen mir die Passagen, in denen Raiski und das Provinzleben ironisiert werden. Die treffen durchaus. Aber in dem Wechsel zum erforderlichen Ernst, wenn es um Wjera geht, oder um den Lehrer Kowlow und seine unglückliche Ehe, da hängt es ein wenig.


    Gontscharow schreibt in "Lieber spät als nie", dass seine drei Romane als ein einziger verstanden und gelesen werden sollten. Fraglos. Von Adujews Aufbruch nach Sankt Petersburg ("Eine alltägliche Geschichte") bis zu Raiskis Aufbruch nach Italien, mit dem Wissen, dass seine Heimat in Russland liegt, hat eine Entwicklung stattgefunden. Die 1869, als "Die Schlucht" erschien, schon weiter fortgeschritten war.


    Gruß, Leibgeber

    Ich vergesse das meiste, was ich gelesen habe, so wie das, was ich gegessen habe; ich weiß aber soviel, beides trägt nichtsdestoweniger zu Erhaltung meines Geistes und meines Leibes bei. (G. C. Lichtenberg)