Dezember 2010 - Ovid: Heroides (Heldinnen)

  • Hallo zusammen!


    So, hier auch der Thread für die Leserunde. :winken: Nix für Ungut - ich finde verschiedene Threads für verschiedene Werke halt einfach besser. Und - nein: Ich glaube nicht an Ovid. :breitgrins:


    Grüsse


    sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

    Einmal editiert, zuletzt von sandhofer ()


  • ... - nein: Ich glaube nicht an Ovid.


    Warum nicht?


    Im Nachwort der Reclam-Ausgabe werden die Zweifel an Ovids Autorenschaft als unbegründet dargestellt. Zweifler (wie z.B. der Verfasser des wikipedia-Artikels) führen Stilfragen als Argument an. Ich fühle mich nicht berufen, in diese Diskussion einzugreifen, stelle aber einfach mal fest: So ein Fragezeichen im Leserunden-Titel sieht echt bescheuert aus ... :zwinker:


    LG


    Tom

  • Die ersten drei Briefe habe ich mittlerweile gelesen. Was auffällt ist die Tatsache, dass Ovid die Kenntnis der eigentlichen Geschichten bzw. des Rahmens, auf den ein Brief sich bezieht, voraussetzt. Während dem heutigen Leser eine Einführung des Herausgebers in den Kontext des jeweiligen Briefs geboten wird, hat Ovid sein Publikum direkt mit den Einlassungen der Briefeschreiberinnen konfrontiert. Ich gehe deshalb davon aus, dass die Geschichten und Figuren aus den Werken Homers und anderer Autoren damals allgemein bekannt gewesen sind.


    Die Übersetzung der in Distichen verfassten Elegien liest sich gut und weitgehend flüssig. Interessant finde ich die Ausführungen über die geistige Welt der römischen Elegie im Nachwort. Dass die Denkmuster und Ideale der elegischen Helden und Heldinnen eine bewusste Distanzierung von der römischen Alltagswelt darstellten, war mir bislang nicht bewusst. Was den klagenden, jammernden Ton angeht, den man heutzutage mit dem Begriff „Elegie“ verbindet, so weicht Ovid an einigen Stellen von der „Norm“ ab. Das bislang beste Beispiel ist der zweite Brief (Phyllis an Demophoon). Die Dame klagt zunächst in bester Tradition über die vermutete Untreue des Geliebten, scheut aber nicht davor zurück, ihn immer wieder als Schuft und Nichtsnutz zu beschimpfen.


    Ziemlich unglaubwürdig finde ich den dritten Brief (Briseis an Achilles). Warum sollte eine verschleppte Sklavin demjenigen, der zuvor ihre gesamte Familie massakrierte, einen Liebesbrief schreiben? Das nährt erste Zweifel am „Frauenversteher“ Ovid, auch wenn er ansonsten, wie schon in den „Metamorphosen“, der leidenden Damenwelt sehr viel Verständnis und Einfühlungsvermögen entgegenbringt. Vielleicht lese und interpretiere ich aber auch einfach nur aus einer allzu männlichen Perspektive …


    LG


    Tom

  • Briefe IV – VI


    Noch habe ich nicht erkannt, ob sich eine Dramaturgie hinter der Aneinanderreihung von Briefen verbirgt. Ich habe jedoch den Eindruck, dass der Ton ein anderer wird ab Brief No. IV: sarkastischer, verzweifelter und listiger in der Argumentation. Wie Phaedra „ihrem“ Hipplolytus erklärt, dass es keineswegs einem Ehebruch gleichkomme, wenn sie mit ihm das Bett teile, grenzt an Dreistigkeit.


    Auch mit Rivalinnen wird scharf ins Gericht gegangen. Oenone lässt kein gutes Haar an Helena („die griechische junge Kuh“); Hypsipyle verflucht Medea als „giftmischende Barbarin“. Auch über seherische Qualitäten verfügen die beiden letztgenannten Damen: Sie sagen den trojanischen Krieg und Medeas traurige Karriere als Kindermörderin voraus.


    Insgesamt stellen die „Heroides“ einen etwas unorganisierten, aber kurzweiligen Ausflug in die Welt der antiken Mythologie dar. Mal dienen Homers „Ilias“ und „Odyssee“ als Hintergrund, dann die Argonautensage und Vergils „Aeneis“. Auch Euripides, den Ovid wohl besonders geschätzt hat aufgrund der differenzierten Frauengestalten, dient als Stofflieferant.


    Es grüßt


    Tom

  • "Er las immer "Agamemnon" statt angenommen, so sehr hatte er den Homer gelesen..."
    (Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher)
    Ich las heute "Medea"statt Media-(Markt), so sehr hatte ich meinen Ovid gelesen...


    Schön, dass du angefangen hast. Ich hatte ja noch immer auf (er)klärende Worte unseres Moderators gewartet... pchallo


    Auch ich habe bereits einige Briefe gelesen. Eine "Dramaturgie" kann ich auch nicht erkennen. Es ist wohl eine lockere Folge von Briefen, die keinem bestimmten Ordnungsprinzip folgen. Noch nicht einmal die Chronologie ist eingehalten. Es fängt mit Penelopes Brief an, aus dem hervorgeht, dass Jahre nach dem Ende des Trojanischen Krieges vergangen sind. Zwei Episteln später folgt der Brief der Brindeis an Achilles, geschrieben mitten im Krieg...
    Leider kann ich mich erst am Freitag eingehender zu den einzelnen Briefen äußern, da ich mal wieder zwei Tage unterwegs bin.
    :winken:

  • Erklärende Worte wozu? Wofür? Wogegen? :?:


    Hierzu:


    Warum nicht?


    Im Nachwort der Reclam-Ausgabe werden die Zweifel an Ovids Autorenschaft als unbegründet dargestellt. Zweifler (wie z.B. der Verfasser des wikipedia-Artikels) führen Stilfragen als Argument an. Ich fühle mich nicht berufen, in diese Diskussion einzugreifen, stelle aber einfach mal fest: So ein Fragezeichen im Leserunden-Titel sieht echt bescheuert aus ... :zwinker:


    :idea:

  • Die ersten vier Briefe habe ich gelesen.
    Mein Staunen über dieses Genre der Heroinen-Briefe, in denen weibliche Haupt- aber auch Nebenfiguren bekannter Mythen mit ihrer Sicht der Dinge zu Wort kommen, hat sich noch nicht gelegt! Wie ich gelesen habe, hat sich seit der Spätantike, über das Mittelalter, die Renaissance, bis ins Barock eine sich an Ovid orientierende Tradition der Heroinen- Briefe entwickelt und etabliert. Vor allem in Frankreich, Italien und England, aber auch in Deutschland gab es Heroinen-Literatur ( z.B. von Christian Hofmann von Hofmannswaldau).
    Das war mir alles neu! Ich dachte immer, die subjektive, intime Äußerung des Individuums im fingierten Brief ( Stichwort: Briefroman! ) sei erst eine Erfindung des 18. Jahrhunderts!


    Der erste Brief (Penelope an Ulixes) ist im Vergleich zu den folgenden drei am unspektakulärsten.
    Er ist geschrieben etliche Jahre nach Ende des Trojanischen Krieges und beklagt das lange Ausbleiben Ulixes’. Penelope zeigt sich zwar ein bisschen argwöhnisch bezüglich seiner Treue (und da ist ihre Hauptsorge, dass er sie als Bauerntrampel hinstellen könnte), aber ihre Klage bezieht sich vor allem auf die Bedrängnis und Not, der sie ohne seinen männlichen Schutz ausgeliefert ist:
    Wir Wehrlosen sind drei an der Zahl , ein schwaches Weib, der greise Laertes und dein Sohn Telemachos …du Hafen und Altar der Zuflucht für die Deinen.
    Ich glaube, das ist echt. Der Brief schildert ihre prekäre Situation. Trotzdem lässt Ovid sie das mit Mutterwitz und einem respektlosen Realismus vortragen:
    Priamus und das ganze Troja war den Aufwand doch nicht wert…. und: Ganz gewiss werde ich … selbst wenn du sofort kommst – wie eine alte Frau aussehen.
    Es hilft nichts, wenn du zurückschreibst, komm selbst!


    Im zweiten Brief beklagt Phyllis, ähnlich wie wir das schon aus den Metamorphosen von Medea und Dido kennen, dass sie viel für ihren Geliebten getan und aufgegeben hat, nun als Betrogene und Verlassene dasteht und keine Zukunft für sich sieht . Auch sie kündigt eine Gewalttat an, an der ihr Geliebter schuld sein wird. Allerdings nimmt ihre Geschichte einen anderen Verlauf als die Medeas oder Didos.


    Zitat von Autor: Sir Thomas« am: 15. Dezember 2010

    Ziemlich unglaubwürdig finde ich den dritten Brief (Briseis an Achilles). Warum sollte eine verschleppte Sklavin demjenigen, der zuvor ihre gesamte Familie massakrierte, einen Liebesbrief schreiben?


    Das ging mir ähnlich. Ich konnte es mir nur so erklären, dass sie aus Überlebenswillen sich bis zur Selbstaufgabe mit dem Täter solidarisiert hat und nun, da sie seine Liebe verloren zu haben glaubt, sich als Treibgut des Krieges fühlt und Angst um ihr Leben hat:
    … wenn ich nur nicht missachtet zurückgelassen werde - dies ist die Furcht, die mich peinigt, die mir elenden Frau die Gebeine erzittern lässt.
    Oh rette lieber mein Leben, das ich ohnehin dir verdanke! Die Freundin bittet dich um das, was du als Sieger der Feindin schenktest.

    Sie entwirft im Brief aber noch weitere Szenarien der Unterwürfigkeit, so dass ich fast den Eindruck habe, dass da so etwas wie Devotismus durchgespielt wird. Der Kommentar spricht vom literarischen Motiv des servitium amoris (Liebesknechtschaft), die in Briseis’ Lebenssituation als Geliebte und Sklavin des Achilles in einer Person dargestellt sei.


    Ich glaube im Nachwort gelesen zu haben, dass man Ovid Monotonie vorgeworfen hat. Ich kann das bis jetzt nicht bestätigen. Die ersten drei Briefe zeigen schon mal drei ganz unterschiedliche Frauen und der vierte Brief lässt einen weiteren gänzlich anderen Frauentyp zu Wort kommen:
    Phädra wendet sich mit ihrem Brief an Hippolyt und gesteht ihm ihre Liebe. Dabei passt nichts zusammen: Es ist ihr Stiefsohn. Es wäre Inzest und Ehebruch. Er ist jung, sie alt. Er mag keine Frauen. Sie weiß im Grunde, dass er sie ablehnt und es total aussichtslos ist. Aber sie befindet sich im Liebeswahn: So zieht sie alle Register und versucht mit jeder Menge rationaler und scheinrationaler Argumente (Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode!) sich selbst und ihn davon zu überzeugen, dass er sie liebt, sie lieben soll, lieben muss. Ein aussichtsloses Unterfangen. Der Höhepunkt ihrer wahnwitzigen Argumentation ist die Berufung auf die Liebeserfolge ihrer Mutter: Die Mutter konnte den Stier schwach machen; wirst du selbst unbeugsamer sein als ein wilder Stier?
    Ich glaube, neben dieser Phaedra nimmt sich die Phèdre von Racine wie eine Nonnenschülerin aus. :zwinker:


  • Die ersten drei Briefe zeigen schon mal drei ganz unterschiedliche Frauen und der vierte Brief lässt einen weiteren gänzlich anderen Frauentyp zu Wort kommen ...


    Der Briseis- und der Phädra-Brief sind interessante Varianten der "krankhaften" Liebe, der amour fou.


    Der Vorwuf der Monotonie bezog sich mWn. eher auf stilistische Fragen, und da sind die Unterschiede bislang wirklich nicht sehr groß. Ich möchte jetzt nicht vorschnell urteilen und die Frage nach dem Frauenbild Ovids sowie nach dem allgemeinen Verständnis des Themas Liebe an den Schluß der Lektüre verschieben.



    Ich glaube, neben dieser Phaedra nimmt sich die Phèdre von Racine wie eine Nonnenschülerin aus. :zwinker:


    Ich bin mir nicht sicher, ob das haltbar ist, denn meine Erinnerung sagt mir, dass die Racinesche Phèdre viele Ovid-Anteile hat, wenn auch vielleicht nicht ganz so drastisch und so konzentriert. Mir fehlt allerdings im Augenblick die Lust, die alte Schiller-Übersetzung im Regal zu suchen und dann auch noch zu lesen.



    Ich dachte immer, die subjektive, intime Äußerung des Individuums im fingierten Brief ( Stichwort: Briefroman! ) sei erst eine Erfindung des 18. Jahrhunderts!


    Das dachte ich auch - und sehe diesen Glauben unerschüttert, weil es sich bei den "Heriodes" nicht um einen klassichen Briefroman im Sinn der "Gefährlichen Liebschaften" oder Goethes "Werther" handelt.


    Wir haben übrigens in etwa einen vergleichbaren Lesestand (ich habe Brief No. VI gelesen, bin also unwesentlich weiter). Lass Dich nicht hetzen, ich habe Zeit ...


    Viele Grüße


    Tom

  • Hallo Sir Thomas!



    Das dachte ich auch - und sehe diesen Glauben unerschüttert, weil es sich bei den "Heriodes" nicht um einen klassichen Briefroman im Sinn der "Gefährlichen Liebschaften" oder Goethes "Werther" handelt ...



    ... Was ich natürlich auch in keiner Weise sagen wollte! Aber dass seit der Antike so etwas wie eine literarische Vor-Form existiert hat, in der das Individuum mit seiner Sicht im Mittelpunkt steht, war mir neu und hat alt hergebrachte Vorstellungen etwas ins Wanken geraten lassen.




    Der Vorwuf der Monotonie bezog sich mWn. eher auf stilistische Fragen, und da sind die Unterschiede bislang wirklich nicht sehr groß.


    Ich habe noch einmal nachgeschaut, es stand doch nicht im Nachwort, sondern bei Wikipedia:
    Den Heroides wurde immer wieder Monotonie vorgeworfen, da sich die Briefe immer wieder um ganz ähnliche Themen drehe.


    Und dort findet sich auch die Entgegnung:

    In den Heroides wird ein breites Spektrum von Liebe und Leidenschaft behandelt.


    Das finde ich auch!



    Zitat von Autor: Sir Thomas« am: 19. Dezember 2010

    Der Briseis- und der Phädra-Brief sind interessante Varianten der "krankhaften" Liebe, der amour fou.


    Die befremdliche Tatsache, dass Briseis einen Liebesbrief an den Schlächter ihres Mannes und ihrer Brüder schreibt, hatte ich in meinem letzten Posting zu erklären versucht. Jetzt fand ich eine ganz ähnliche Interpretation:


    As a barbarien, as a captive … Briseis finds her ability to bargain and to plead wakening with each turn of events … Her only salvation lies in her ability to be loved by Achilles…her fate is hat she remains no more than an item of exchange between two powerfull men… he( Achilles) is dominant because he was first her master and she was his slave ... the bonds of love only followed the initial bonds of defeat and captivity.
    The irony of her situation is only heightened in the reader’s mind by the fact that the originary language of erotic literature refers to the experience of love as slavery, a kind of captivity.

    [Blockierte Grafik: http://t2.gstatic.com/images?q=tbn:aT-yAoEGz-OU2M:http://fotogalerie.herr-der-ringe-film.de/data/500/BriseisAchilles.jpg]
    Achilles und Briseis


    Interessant finde ich, dass in dem Troja-Film von Petersen Briseis keine Fremde aus XY ist, deren Verwandtschaft massakriert wurde, sondern eine trojanische Priesterin Apolls, die Achill Kontra gibt – Eine ganz andere, sicher zuschauerfreundlichere Konstellation! Ich habe im Internet so etwas wie Fanclubs für die Achilles- und- Briseis –Szenen des Films gefunden. Unter anderem wurden sie zum sexiest couple alive(or dead) gekürt.


    Zu Phädra und Phèdre schreibe ich vielleicht morgen noch etwas. :zwinker:

  • Hallo Gontscharow,


    ich komme derzeit nicht zur Ruhe und daher keinen Schritt weiter in unserer Lektüre. Ab morgen könnte es besser werden.



    ... the fact that the originary language of erotic literature refers to the experience of love as slavery, a kind of captivity.


    Das ist in der Tat eine der erstaunlichsten Varianten des ewigen Themas "Liebe"! Ich erinnere mich dunkel, dass bereits Catull und Properz in ihren Elegien das Thema ähnlich behandelten. Bei Properz (oder war es Catull?) wird die Frau als "domina" (Herrin) angesprochen, was auf einen ähnlichen Zusammenhang verweist wie Dein Zitat. Da ich parallel immer noch Prousts "Recherche" lese (derzeit Band 7), entdecke ich dort ähnliche Metaphern und Bilder in der Beschreibung des Verhältnisses Marcel-Albertine. Die "Modernität" Ovids ist wirklich frappierend!


    Viele Grüße


    Tom

  • Hallo Tom!



    Ich bin mir nicht sicher, ob das haltbar ist, denn meine Erinnerung sagt mir, dass die Racinesche Phèdre viele Ovid-Anteile hat, wenn auch vielleicht nicht ganz so drastisch und so konzentriert. Mir fehlt allerdings im Augenblick die Lust, die alte Schiller-Übersetzung im Regal zu suchen und dann auch noch zu lesen.


    Also, lieber Sir Thomas, das wundert mich nun aber! :zwinker: Ich habe Phèdre erwähnt, weil ich noch dies im Hinterkopf hatte:


    Zitat von Sir Thomas am 3. Dezember 2010

    Erst kürzlich blätterte ich in der Schiller-Übersetzung von Racines "Phèdre" …- und siehe da: Die Phädra-Monologe hätten auch in den "Metamorphosen" stehen können!


    und dies:


    Zitat von Sir Thomas am: 7. Dezember 2010

    Ein wenig enttäuscht war ich über die ovidsche Darstellung der Hippolytus-Phädra-Geschichte. ….Racine hat das in seinem Drama „Phèdre“ sehr viel differenzierter dargestellt, in etwa so, wie Thomas Mann die Versuchung des Joseph durch Potiphars Frau beschrieben hat. Vielleicht hat Ovid der Phädra in seinen „Heroides“ mehr Verständnis entgegengebracht.


    Das klang so, als wäre Phèdre dein täglich Brot :breitgrins: … und ein Vergleich des Phädrabriefes mit dem Drama würde dich besonders interessieren.


    Nun, ich habe mal in meiner alten Racine- Schwarte geblättert:


    Je m’abhorre encor plus que tu me détestes
    (Ich verabscheue mich noch mehr als du mich verachtest)


    sagt Phèdre zu Hippolyt. Das würde Phädra nie schreiben! Phédre ist im Gegensatz zu Phädra zernagt von Gewissensbissen, Zweifeln und Skrupeln. Außerdem geht sie bei ihrem eher unfreiwilligen Geständnis davon aus, dass Theseus tot ist. ( La veuve de Thésée … die Witwe des Theseus) Man merkt das christliche Abendland! Ich glaube, sie erwähnt im Gegensatz zu Phädra nirgendwo den Fluch ihres Elternhauses und die erotischen Extravaganzen ihrer Mutter schon gar nicht, um sie wie Phädra zum Argument zu machen!
    Interessant auch, dass Hippolyt bei Racine kein Frauenverächter ist, dass er in ein Mädchen verliebt ist. Erst als Phèdre das erfährt, schwärzt sie ihn aus Eifersucht an.


    Also, ich finde schon, Ovids Phädra ist skrupelloser, ungebremster, wahnsinniger - umso mehr, als sie noch aussichtsloser und selbstzerstörerischer liebt als Phèdre .


    Ich habe nun auch die Briefe V und VI gelesen. In V schreibt die Brunnennymphe Oenone an Paris, ihren Jugendgefährten und erinnert ihn an Zeiten, als sie gemeinsam die Natur durchstreiften. Bukolische Szenen, die wie immer, wenn Ovid die Natur beschreibt, besonders schön und anschaulich sind. Der Zeitpunkt: Paris ist gerade mit Helena angekommen. Interessant ist der Brief auch, weil hier indirekt Kassandra zu Wort kommt, die vor der „ Griechischen Kuh“ und dem Unheil, das Paris mit ihr ins Land geholt hat, warnt, von der eifersüchtigen Oenone natürlich nur zum Zwecke der Abwertung ihrer Rivalin kolportiert..
    Es ist der dritte Brief, der mit dem Trojanischen Krieg zusammenhängt, geschrieben unmittelbar vor seinem Ausbruch! Nun wird deutlich, dass die Chronologie der Briefe rückläufig ist.
    Das macht dem Leser besonders deutlich, dass die paradiesischen Zustände in Phrygien, die Oenone beschreibt, nun unausweichlich vorbei sind ...


  • Das klang so, als wäre Phèdre dein täglich Brot :breitgrins: … und ein Vergleich des Phädrabriefes mit dem Drama würde dich besonders interessieren.


    Täglich Brot? Nicht ganz ...


    Deine Ausführungen haben eines bewirkt: Nicht aus purer Lust am Disput, sondern um nicht weiter auf Erinnerungsfetzen angewiesen zu sein, werde ich "Phèdre" in den nächsten Tagen lesen. Sooo umfangreich ist das Drama Gott sei Dank nicht.



    ... ich finde schon, Ovids Phädra ist skrupelloser, ungebremster, wahnsinniger - umso mehr, als sie noch aussichtsloser und selbstzerstörerischer liebt als Phèdre .


    Abschließendes dazu nach der Racine-Lektüre.


    Ich bin gestern noch ein wenig weitergekommen (bis einschließlich Brief IX). Dazu später mehr.


    Liebe Grüße


    Tom


  • Bukolische Szenen, die wie immer, wenn Ovid die Natur beschreibt, besonders schön und anschaulich sind.


    Nur eine kurze Bemerkung dazu: Diese Schilderungen (Du nennst sie bukolisch) können auch anders aufgefasst werden: zum einen als Parodie des Großdichters Vergil, zum anderen aber auch als Schlichtheit und Naivität der Briefeschreiberin. Ich möchte gern an die erste Variante glauben.


    LG


    Tom

  • Ich bin Euch ja noch die Antwort auf diese Frage schuldig:


    Warum nicht?


    Ich habe so vor rund 20 Jahren mal - der Phädra wegen übrigens - in die "Heldinnen" hineingelesen. Eine rein gefühlsmäsige Reaktion: Diese Briefe hatten für mein Gusto so gar nichts von Ovid an sich. Ich war damals doch ziemlich enttäuscht und habe auch nie fertig gelesen. Dass Reclam sich rechtfertigt, die Briefe seien wirklich von Ovid, könnte natürlich auch dem Wunsch entspringen, den zugkräftigen Namen des Autors nicht weglassen zu müssen. Aber wirklich handfeste Beweise haben wohl weder der Verlag noch ich. :winken:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Zitat von Autor: Sir Thomas« am: 23. Dezember 2010

    Diese Schilderungen (Du nennst sie bukolisch) können auch anders aufgefasst werden: zum einen als Parodie des Großdichters Vergil, zum anderen aber auch als Schlichtheit und Naivität der Briefeschreiberin.


    Auf jeden Fall! Dass Ovid mit seiner Idyllik hier in Spuren geht - parodistisch oder adaptierend – glaube ich auch! Und dass sich darin „Schlichtheit und Naivität“ der Schreiberin ausdrücken, ebenfalls. (Ihrem Status als Naturnymphe entsprechend lässt Ovid sie ja auch ausschließlich florale Metaphorik verwenden. Sie vergleicht ihren wankelmütigen Liebhaber mit Grashalmen und Blättern …)
    Das alles tut aber den das friedliche Landleben beschwörenden Versen keinen Abbruch, deren wehmütige Schönheit sich angesichts des Wissens um den unweigerlich kommenden Krieg besonders entfaltet!


    Zitat von Autor: sandhofer« am: Heute um 14:14

    Dass Reclam sich rechtfertigt, die Briefe seien wirklich von Ovid, könnte natürlich auch dem Wunsch entspringen, den zugkräftigen Namen des Autors nicht weglassen zu müssen. Aber wirklich handfeste Beweise haben wohl weder der Verlag noch ich.


    Reclam rechtfertigt sich nicht und versucht auch keine Beweise beizubringen. Ovids Autorschaft wird als selbstverständlich vorausgesetzt und die Zweifel an der Echtheit im Nachwort als eine Episode der Ovid- Rezeption nur am Rande erwähnt. Bis auf besagten Wikipedia-Artikel habe ich so gut wie nichts gefunden, was auf eine solche Diskussion hinweisen würde , dagegen viele Ausgaben und Besprechungen, in denen Ovid ganz selbstverständlich als Autor der Heroides geführt und genannt wird.


    Zitat von Autor: sandhofer« am: Heute um 14:14

    Eine rein gefühlsmäsige Reaktion: Diese Briefe hatten für mein Gusto so gar nichts von Ovid an sich.


    Von der Lektüre der Metamorphosen herkommend muss ich sagen, dass ich sehr viel Ovid in den Heroides wiederfinde! Man darf auch nicht vergessen, dass – vorausgesetzt, sie sind von Ovid - sie vor den Metamorphosen entstanden sind.
    Ich bin keine Altphilologin und kann die „Beweise“ des Wiki-Artikels, unovidische Wendungen in den Heroides o. ä., nicht entkräften.
    Ja, und ich möchte natürlich, dass die Heroides von Ovid sind. :zwinker:


    Zitat von Autor: sandhofer« am: Heute um 14:14

    Ich habe so vor rund 20 Jahren mal - der Phädra wegen übrigens - in die "Heldinnen" hineingelesen.


    Von Euripides, Seneca, Racine oder d’Annunzio? :zwinker:

  • Ich bin keine Altphilologin und kann die „Beweise“ des Wiki-Artikels, unovidische Wendungen in den Heroides o. ä., nicht entkräften.
    Ja, und ich möchte natürlich, dass die Heroides von Ovid sind. ;)


    Ich bin auch nicht von der Zunft. Wie gesagt, es war eine gefühlsmässige Reaktion. Vielleicht auch nur einer schlechten bzw. völlig andern Übersetzung geschuldet.


    Von Euripides, Seneca, Racine oder d’Annunzio? ;)


    Ursprünglich Racine. Dann aber interessierten mich natürlich die verschiedenen Darstellungen des Mythos auch an und für sich.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hier der versprochene Exkurs zu Phädra bei Ovid und Racine:
    Racine hat seine Phèdre in der Tat anders angelegt als Ovid: zivilisierter, kultivierter - und damit den Moralvorstellungen des Publikums (des französischen Adels) sowie den gesellschaftlichen Vorgaben seiner Zeit entsprechend.


    Im Grunde agieren auf Racines Bühne edle Gestalten in einer Verkettung unglücklicher, von rachedurstigen Göttern ausgelöster Umstände („Ein Gott hat die Besinnung mir geraubt ... So will es Venus! Von den Meinen allen // Soll ich, die Letzte, soll am tiefsten fallen!“). Das Böse kommt in der Gestalt Oenones und deren giftigen Einflüsterungen („Zerrissen sind mit Theseus' Tod die Bande, Die deine Liebe zum Verbrechen machten“) in die Welt, Theseus, der „Frauenräuber“, bleibt eher blass. Racines Phèdre stellt sich als Getriebene dar, gibt sich schuldbewusst und beinahe devot, was den Vergleich mit einer „Nonnenschülerin“ durchaus rechtfertigt.


    Die Ovidsche Phädra will mir nicht wirklich verzweifelt vorkommen, sondern eher kalt und berechnend, wenn sie bspw. argumentiert, das angestrebte inzestuöse Verhältnis zwischen ihr und Hippolyt könne nur schwerlich von der Außenwelt bemerkt werden, da Mutter und Stiefsohn unter einem Dach leben und eine Geheimhaltung der verbotenen Liebe deshalb einfach sei. Der Brief ist an Dreistigkeit kaum zu überbieten; er ist, nach meinem bisherigen Lesestand, der außergewöhnlichste der Sammlung. Für mich ist die Ovidsche Phädra eine antike Variante der Femme fatale, eine Vorläuferin von Flauberts Herodias und Oscar Wildes Salomé.


    Viele Grüße


    Tom